• 09. September 2024
  • Tradition & Innovation
  • Ulf Schulz

Einkaufswagen aus Berlin

Classic Monday – der ungewöhnliche AWS Shopper.

Die Leistungsangabe weckt fast Mitleid: 13,6 PS. Auf die Stelle nach dem Komma wird wert gelegt – im Fahrzeugschein sind dadurch schließlich stolze zehn KW vermerkt. Auch sonst findet man eher Werte, die einem Motorrad würdig wären. Ganze 22 Newtonmeter aus 250 Kubikzentimetern und zwei Zylindern, zwei Sitzplätze, 415 Kilogramm Leergewicht. Ist man optimistisch, zeigt der Tacho am Ende sogar 75 Kilometer pro Stunde an. Klingt nach Downsizing und das wurde scheinbar schon viel früher erfunden, als uns die kleinhubigen und zwangsbeatmeten Dreizylinder von heute glauben lassen.

Was kommt nach dem Goggomobil?

Kurz vor der ersten Ölkrise und nach dem Ende des Goggomobils erblickt das skurrile Vehikel das Licht der Welt. Borgward-Händler Walter Schätzle, dessen Initialen sich mit seiner Frau Anneliese in AWS wiederfinden, sah im Auslauf des Goggos einen Bedarf derer, die einen Klasse 4 Führerschein besaßen und damit auf 250 Kubikzentimeter limitiert waren. Darüber hinaus sollte es seiner Idee nach aber als neues Einkaufs-, Hobby-, Junge Leute-, Großstadtverkehr-, Kleintransport-, Zweit- und Dritt-Auto verstanden werden!

Der Rahmen ist der Schlüssel

Enthusiastische Ziele, für die Schätzle 1969 den Grundstein legt. Er selbst übernimmt die komplette Ersatzteilproduktion des Goggomobils, studiert in Dingolfing die Fertigung des Kleinwagens und schafft schlussendlich mit 380 Eisenbahnwagons die ganze Produktionsstraße von Bayern ins hessische Oberbessingen. Doch Ersatzteile sind ihm bald schon nicht mehr genug. Er will einen Goggo-Nachfolger bauen, experimentiert mit Gitterrohrahmen aus alten Loyd-Auspuffanlagen – und scheitert. Im Herbst 1969 die kommt ihm die zündende Idee. Alugussecken sollen Vierkantrohre aufnehmen, die das Karosserie-Gerippe auf der bewährten Goggo-Bodengruppe bilden – die frühe Entdeckung der späteren Spaceframe-Technik von Audi!

Die Idee bekommt Kanten

Das Gerippe wird einfachheitshalber mit meist orangenen, kunststoffbeschichteten Blechtafeln beplankt und die Karosserie so konzipiert, dass die Formgebung auf einer gewöhnlichen Kantbank stattfinden kann. Form follows function par excellence – doch allein dieser Slogan klingt kreativer als das Design des AWS. Walter Schätzle wird später in einer Fachzeitschrift mit den Worten zitiert: „Wen interessiert denn wie der ausschaut, fahren muss er!“.

Ruck-zuck montiert – und günstig

Dass der Entwurf Kosten spart und von jedem Laien instandgesetzt werden kann, zeigt Schätzle im Mai 1970 auf der Hannover-Messe. Um sein Konstrukt der breiten Masse vorzustellen, heuert er Studenten an, drückt ihnen Hammer, Bohrmaschine und Nietenzange in die Hände und lässt eindrucksvoll vorführen, wie ein Jedermann in Sekundenschnelle Karosserieteile wechseln kann. Ein ausgerufener Preis von unter 4.000 DM, und der gewünschte Effekt lässt nicht lang auf sich warten. Schnell reihen sich 10.000 Vorbestellungen in die Auftragsbücher, doch nur klägliche 14 Auslieferungen schaffen es 1970 in Kundenhände. Ein Fiasko.

Wir fahren nach Berlin

Die Westberliner Enklave wird zum vermeintlich rettenden Eiland, dort winken Steuervergünstigungen. So geht der Firmengründer Ende 1971 notgedrungen den Umzug an. In Berlin-Rudow wird die neue Produktion aufgebaut und die Berliner Gazetten rufen die neue Autostadt Berlin aus. Währenddessen sucht man händeringend 300 neue Facharbeiter. Und gerade die scheinen ein echtes Problem zu sein – es gibt schlichtweg keine. Schätzle investiert viel Zeit ins Anlernen der vorwiegend türkischstämmigen Arbeiter und ebenso viel Zeit in die Nacharbeit der Wagen.

Ein jähes Ende

In der im Januar 1973 gestarteten Produktion sind so lediglich bis zu 25 Fahrzeuge am Tag herzustellen. Realitätsfern träumen Geldgeber und Investoren hingegen schon von der Produktion von Luxuslimousinen, während Schätzle eimerweise Wasser aus dem leck-geschlagenen Kahn schöpft. Im Herbst 1973 zieht er die Reißleine und verlässt das Unternehmen. Ohne zu ahnen, dass die nahende Ölkrise den Sargnagel des Automobilbaus in Berlin bereiten wird. Zwar verbraucht der Winzling wenig Kraftstoff, doch die Leute geraten bei Fahrverboten und Tempolimits kaum in Kauflaune. Und so endet die Ära des kleinen Autos für Jedermann nach gut 1.800 Exemplaren.

Eine Frau fährt um die Welt

Die Abenteuer der Berlinerin Heidi Hetzer

Fotocredit Vivian J. Rheinheimer

Mit der Erinnerung ist es so eine Sache – im kollektiven Gedächtnis verblassen selbst besondere Ereignisse oft recht schnell. Auch die Abenteuer einer kleinen Berlinerin, die nicht das Herz auf der Zunge hatte, mutig und unerschrocken war. Ihr zu Ehren gingen im Juli zum sechsten Mal rund 130 Oldtimer auf der berühmten Avus an den Start. Eine Erinnerung an Heidi Hetzer.

Fotocredit Vivian J. Rheinheimer
Fotocredit Vivian J. Rheinheimer

Emanzipation unter der Hebebühne

Rückblende in den Sommer 1937: Heidi kommt als zweite Tochter des Fahrzeughändlers Siegfried Hetzer in Berlin zur Welt. Die Liebe zu Fahrzeugen und der Marke Opel wird ihr in die Wiege gelegt. Sie wird ihr ein Leben lang verbunden sein. Im elterlichen Betrieb macht sie 1954 als eine der ersten Frauen eine Kfz-Mechaniker-Lehre. Es ist die pure Wissbegierde: Sie will begreifen, wie das Auto funktioniert, nicht nur darüber reden. Doch trotz ihrer Sachkenntnis wird sie überall „nur“ als die Tochter Hetzers gesehen. Eine Frau unter der Hebebühne ist damals wenig akzeptiert.

Verlieren gilt nicht!

Kurzerhand nimmt das umtriebige Mädchen ihr Leben selbst in die Hand, verdient sich eine Mark nach der anderen, um mit dem Ersparten eine Autovermietung zu gründen. Ende 1969 verstirbt ihr Vater und hinterlässt seine Firma im angeschlagenen Zustand. Mit ihrer einjährigen Tochter unter dem Arm tritt sie das schwere Erbe an, und schafft eines der bekanntesten Autohäuser Berlins. Ihr unternehmerisches Motto: „Siege, wenn du kannst. Verliere wenn du musst. Kapituliere nie!“

Zuhause auf der Avus

Gelernt hat Heidi Hetzer das schon früh im Sport, hinterm Lenkrad fühlt sie sich am wohlsten. Mit 17 ging sie mit ihrem Lambretta-Roller bei der Gelände-Fahrt „Rund um die Müggelberge“ an den Start, absolvierte tapfer zehn Runden im Schlamm und Dreck. Zum zweiten zuhause wird ihr die Berliner Automobil-Verkehrs- und Übungsstraße, kurz: Avus. Dort geht sie 1957 mit in einem Goggomobil an den Start, donnert mit 85 km/h durch die geklinkerte Steilkurve. Als der Vater 1966 von ihrem Rennen auf der Avus in einem seiner Opel-Vorführwagen aus der Zeitung erfährt, hagelt es eine Moralpredigt. Doch von ihrer Leidenschaft kann sie das nicht abbringen.

Jede Rallye ein Abenteuer

1978 landet sie während der Rallye „Tour d´Europe“ sogar im Gefängnis, Heidi Hetzer war auf dem Weg nach Ankara mit einem anderen Wagen kollidiert. Nur eine von vielen Geschichten ihrer zahllosen Abenteuer, die von der „Rallye Monte Carlo“ über die „Düsseldorf – Shanghai“ bis zur „Carrera Panamericana“ führen. Der Motorsport lehrt sie das Kämpfen. Sich auf das Ziel zu konzentrieren, nicht ablenken zu lassen und pünktlich zu sein, das sind auch Tugenden fürs Leben. Sie weiß, dass sie als Frau in einer von Männern dominierten Auto-Welt stets strenger bemessen wird.

Von wegen altes Eisen

2012 verkauft Heidi Hetzer das 93 Jahre alte Familienunternehmen. Sie selbst ist 75 und fühlt sich noch lange nicht als altes Eisen. Vielmehr treibt es sie auf die Spuren Clärenore Stinnes, eines ihrer großen Vorbilder. Die Tochter des Großindustriellen war 1927 im Alter von 26 Jahren auf Weltreise gegangen – im Auto, versteht sich. So besorgt sich Heidi einen imposanten Hudson Greater Eight, den sie liebevoll „Hudo“ nennt und bricht im Sommer 2014 zur Weltumrundung auf. Ihre Teilzeit-Beifahrer verschleißt sie dabei schneller als sie das Ventilspiel des Motors nachstellen muss. Aber „Hudo“ ist treu.

Fotocredit Vivian J. Rheinheimer

Jubel am Brandenburger Tor

Sie selbst wird zum Symbol für einen unerschütterlichen Optimismus. Egal, was kommt, ob sie im laufenden Motor einen Finger verliert, an Krebs erkrankt oder ausgeraubt wird – für sie geht es immer irgendwie weiter. Und sie schafft es tatsächlich um die Welt: Nach fast drei Jahren auf der Straße, steht Heidi Hetzer im März 2017 unter tosendem Beifall der Zuschauer wieder vor dem Brandenburger Tor in Berlin.

Fotocredit Vivian J. Rheinheimer

Die letzte große Fahrt

Etwas ruhiger ist sie geworden, weiß jeden Tag zu schätzen und schreibt ein Buch über ihre große Reise: „Ungebremst Leben“. Obwohl sie nicht mehr ganz so rastlos ist, durchquert sie ab Winter 2018 in einem Geländewagen nochmals Afrika. Es wird ihre letzte Fahrt sein, im April 2019 stirbt sie bei einem Heimatbesuch. Aber vergessen ist sie nicht.

Der Berg ruft

Das fantastische Comeback des Glasbachrennens.

Bild: mepictures – Marcus Möller

Morgens, an einem Samstag mitten im Juni. Leichter Regen küsst den Asphalt. Am Fuße des kleinen Örtchens Steinbach in Thüringen quietschen die Räder eines Ford Escort RS 1600 BDA. Der Cosworth-Motor des Hundeknochen-Escort heult auf, die kleine Ampel schaltet auf grün und schon geht die Post ab. Mittendrin im 26. Internationalen Glasbachrennen!

Bild: mepictures – Marcus Möller

Rennsport, zum Greifen nah

Auf den nächsten 5,3 Kilometern warten 35 Kurven und 250 Höhenmeter auf das Kölner Auto mit dem englischen Herzen. Wie an der Seilbahn zieht der Ford kreischend den Berg hinauf. Eine zackige rechts-links Kombination und die einzige Schikane auf der Strecke ist überwunden. Die Zuschauer am Streckenrand sind beeindruckt, als der rechte Radlauf dabei den zur Barriere aufgebauten Reifenstapel leicht touchiert, Streckenposten eilen zum Aufräumen. Kaum später zischen Fahrer und Bolide mit 91 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit über die Ziellinie. 3:30:826, so die Zeit, die aus den Lautsprechern schallt und schon quietscht es aufs Neue an der Startlinie.

Die Tradition lebt wieder auf

Seit 1974 wird am Rennsteig das längste Bergrennen Deutschlands ausgetragen. Damals, im September, erlebten über 6.000 Besucher die Läufe zur DDR-Meisterschaft. Und schnell wurde es internationaler auf der anspruchsvollen Strecke. Fahrer aus dem Ostblock duellierten sich mit Berg und Stoppuhr. Doch nach der Wende stoppten der marode Asphalt und eine ungenügende Streckensicherung vorerst den Rennbetrieb. Die Ortschaft Steinbach, direkt an der Bergrennstrecke liegend, wollte sich dem Verfall der Geschichte nicht ergeben. In einer neu gegründeten Rennsportgemeinschaft, dem Altensteiner Oberland e.V. rund um die Vorsitzenden Markus Malsch und Thomas Weih wurde der Grundstein für die Wiederbelebung der Rennstrecke gelegt.

Bild: mepictures – Marcus Möller

Die modernste Piste Europas

Als ein Umzug der Piste nötig wurde, schaffte man zusammen Großes. In unzähligen Arbeitsstunden und mit der Unterstützung des Freistaates Thüringen und dem ADAC, wurde nicht nur Deutschlands längste Bergrennstrecke am Glasbach entwickelt, sondern auch die modernste Europas. Der wahre Kern des Pudels liegt aber in den Steinbachern selbst. Ausgestattet mit großen Herzen, unbändiger Leidenschaft und einer Gastfreundschaft, die ihresgleichen sucht, strahlt das Bergdorf die Liebe zum Motorsport in die Welt hinaus. Alles ist auf den Beinen!

Bild: mepictures – Marcus Möller

Die Garage wird zum Fahrerlager

Anwohner räumen emsig ihre eigenen Carports und Garagen, um den amateursportlichen und semiprofessionellen Rennteams ein Fahrerlager zu schaffen. In den schmalen Gassen des Dorfes, wäre es dafür auch schlichtweg zu eng, 145 gemeldete Rennwagen brauchen Platz. Soviel, dass man die Rennstrecke um 200 Meter einkürzt, um im Ziel am Rennsteig alle Fahrzeuge unterbringen zu können – Rekord in der Geschichte des Rennens! Und weil mehr Autos noch mehr Spaß versprechen, starten neben den Teilnehmern der Berg-Europameisterschaft auch die Fahrer und Fahrerinnen des luxemburger sowie österreichischen Berg-Cups, des NSU-Bergpokals und dem historischen Lauf.

Bild: mepictures – Marcus Möller

Ein Formel-1-Pilot als Schirmherr

Bergrennen heißt volle Konzentration. „Anders als auf der Rundstrecke, hast Du eben nur einen Versuch. Machst du einen Fehler, kostet dich das die Platzierung“, resümiert Ex-Formel-1-Pilot und RTL-Kommentator Christian Danner. Er ist Schirmherr der Veranstaltung und das ganze Wochenende vor Ort. Das Bergrennfieber hat ihn längst gepackt, auch wenn der Münchner selbst nur ein einziges Bergrennen in seiner vielfältigen Karriere absolviert hat: „Aber das hier, ist Motorsport zum Anfassen. Man spürt die pure Leidenschaft aller, die hier sind“. Dabei blitzen seine Augen, er grinst, gibt unzählige Autogramme und verschwindet wieder Richtung Strecke. Der Berg ruft!

Bild: mepictures – Marcus Möller