- 02. Juni 2021
- Tradition & Innovation
- Elmar Brümmer
Mobiles Leben: Das große Surren
Die viel beschworene neue Mobilität verändert viel. Vor allem aber: uns selbst. Eine Kolumne aus dem Herzen der Stadt.
Es ist ein großes Versprechen der GTÜ, und bisher hat sie es auch stets gehalten: „Wir halten Sie mobil!“ Mobilität, das ist – immer noch und immer wieder – ein sehr dehnbarer Begriff. Jeder versteht inzwischen etwas anderes darunter, nur die Lateiner haben es da leichter: mobilitas bedeutet ganz wörtlich Beweglichkeit. Der Begriff ist immer noch ungemein positiv besetzt, doch längst geht es dabei nicht mehr allein um die reine Fortbewegung.
Mobilität ist ein Grundbedürfnis des Menschen, sie steckt in seinen Genen, bestimmt seinen Willen. Für viele ist sie gleichbedeutend mit Individualität, letzten Endes sogar mit Freiheit. Entstanden ist daraus eine Massenbewegung, und diese ist wiederum der Grund, warum sich so viele Individualisten im Straßenverkehr regelmäßig in die Quere kommen. Bewegung tut weiter not, die Frage, die sich in jeder Innenstadt, an jedem Ausflugsziel stellt, lautet nur: wie und wohin?
Ein ganz neues Mobilitätsgefühl
Es ist Zeit für eine Hauptuntersuchung des neuen Mobilitätsgefühls. Repräsentativ dafür erscheint uns eine erst kürzlich aufgehübschte Ecke einer deutschen Landeshauptstadt. Statt zweier Fahrspuren samt Parkplätzen gibt es nur noch eine Straße, die sich jetzt alle Verkehrsteilnehmer teilen sollen. Drei teilnehmende Arten hatten die Stadtplaner identifiziert: Autofahrer, Fußgänger, Fahrradfahrer. Erstere haben Platz abzugeben, die zweite Gruppe darf sich breiter machen, die dritte rückt in den Mittelpunkt. Wortwörtlich geht es ab durch die Mitte.
Fahrradfahren, lernen wir als unvereidigte urbane Mobilitätssachverständige, das ist ein Pauschalurteil – und damit falsch. Selbst wer sich nur am Rande mit dem großen Surren beschäftigen sollte, kann sein Zweiradwissen aus der Kindheit in die Reihe der fossilen Brennstoffe einordnen: nur noch bedingt zukunftstauglich. Wie einfach das doch war: Damenrad, Herrenrad, Rennrad. Für Kinder alles eine Nummer kleiner, für verwegene Kinder: Bonanzarad mit Hochlenker und Bananensattel. Letzteres besitzt heute noch einen ungeheuren Coolness-Faktor. Schade nur, dass viele Trends lediglich so haltbar sind wie der Rostschutz eines Rohrrahmens.
Direkt an der Zweiradautobahn hat ein Fachgeschäft aufgemacht. Wer bisher dachte, dass Betten-Supermärkte überdimensioniert sind, und dass da vielleicht auch ein gewisser Kult um Lattenroste und Cool-down-Kissen zelebriert wird, war vermutlich noch nie im Fahrrad-Megastore. Antworten Sie lieber nicht mit „ein Fahrrad“, wenn der Verkäufer Sie nach Ihren Wünschen fragt. Der Fachberater fühlt sich sonst in den April geschickt. Eignen Sie sich im Homeoffice besser ein Grundvokabular an: Dirtbike, Citybike, Trekkingbike, E-Bike …
Wer auf den Begriff Bio-Biker stößt, dem sei verraten, dass es sich dabei um ganz gewöhnlich strampelnde Menschen ohne Fahrhilfe handelt. Aber die erscheinen den meisten dann doch etwas zu altmodisch. Natürlich gilt auch im Zweiradverkehr die Grundregel vom Sehen und Gesehenwerden, und das bezieht sich nicht nur auf die Straßenverkehrsordnung.
Früher standen Eltern mit ihren Kindern auf Autobahnbrücken und hielten im unter ihnen fließenden Verkehr nach einer möglichen Familienkutsche Ausschau. Heute entfalten sich fahrende Untersätze in ihrer ganzen Pracht. Alles, was rollt, gibt es praktisch auch elektrifiziert, selbstverständlich sind auch Kinderwagen mit intelligenter Technologie lieferbar.
Erleben, nicht bloß erledigen
Das Zukunftsinstitut, das wir im Ansinnen um eine wissenschaftliche Deutung bemüht haben, sieht das Zeitalter der Multimobilität gekommen. Es geht beim neuen Bewegen nicht mehr nur ums Erledigen, sondern vor allem ums Erleben. Gern auch ums Erholen. Multi, wie Multifunktion. Vernetzt und in Teilen autonom soll die Entschleunigung geschehen.
Vor allem soll sie Spaß bringen. Zitat aus einer Studie für den ADAC: „Der flexible Zugriff auf die ganze Vielfalt an Mobilität wird so zu einem Spiel, das den Spaß an Alternativen bezeugt, auf Vielfalt statt Routinen setzt und Pragmatik über Status stellt. Hypermobil sein bedeutet Abwechslung, Vernetzung und Erlebnis.“
Schon wird das E-Bike-Fahren zur smarten Mobilität, der Akku soll Spaßmaschine sein. Ein Technologie-Fan schwärmt davon, dass sich das elektrifizierte Radeln anfühle, „als hätte man bionische Beine.“ Erst das Mindset verändern, dann Körperteile mechanisieren? Tja, belehren Experten (und unsereins entgeht nicht der bemitleidende Blick), moderne Bikes sind längst smarter, als wir lenken – mit Touchscreen, Tastenbedienelementen neben dem Fahrradgriff, Schnittstellen von Hard- und Software. Die Beleuchtung verstellt sich im Rhythmus der vorbeiziehenden Wolken, die Alarmanlage kann scharf gestellt werden, wenn am Bahnhof keine Box mehr frei ist.
Schon mal vom Silver Mover gehört?
Es sind ganz neue Gesellschaftstypen, die da heranwachsen, fernab der obligatorischen Sonntagsfahrer, Lichthupenjunkies und Schattenparker. Eine mobile Avantgarde verheißen die Experten vom Trendbüro. Pragmatische Idealisten mit hohen Ansprüchen in Hinblick auf Design, digitale Vernetzung und Umweltverträglichkeit. Die supersaubere Nachhaltigkeitsbilanz ihres mobilen Lebensstils bekommen sie durch ein ausgeklügeltes Monitoringsystem monatlich ausgewiesen. Mobile Innovators heißt der Sammelbegriff für die künftig aktivste Gruppe im Verkehr. Knapp dahinter kommen die Forever Youngsters. Die 60- bis unter 75-Jährigen gelten als die jungen Alten, sie schwören auf einen Mix aus konventionellen und alternativen Lösungen. Ihr Tatendrang und ihre Neugierde lassen die Grenzen zwischen öffentlicher und privater Mobilität verschwimmen. Hauptsache auch hier: grün, gesund und günstig. Im mobilen Unruhestand bewegen sich die Silver Movers, die über 75-Jährigen. Sie haben höchste Ansprüche hinsichtlich Bequemlichkeit, Sicherheit und elektronischer Unterstützung. Nachgefragt werden von ihnen vor allem Mobilität im Nahbereich und automatische Assistenzsysteme, die zu mehr Sicherheit und Einfachheit im Straßenverkehr beitragen.
Wer in solche Gedanken versunken vor dem vollgestopften Schaufenster des Fahrradtempels durch einen vorbeirauschenden Wakeboarder aufgeschreckt wird, muss jetzt keine vorschnelle Entscheidung treffen. Die Studie, auf der diese Kolumne beruht, bezieht sich auf 2040. Genug Zeit also, um beispielsweise über eine stärkere Motorisierung des Gravelbikes, Karbonanbauteile fürs Pedelec oder federleichte Sportpedale ausführlich nachzudenken. Gut hat es, wer ein Umsteiger ist – er kennt die Zusatzpreislisten noch vom Autokauf. Drum prüfe, was Du wirklich brauchst. Manches scheint sich auch in der neuen Mobilität dann doch nie zu verändern.
Der Autor taucht einstweilen in die Untiefen seines Kellers ein, irgendwo muss das Bonanzarad in Teilen noch vorhanden sein. Einmal Easy Rider, immer Easy Rider.