- 09. Oktober 2024
- Sicherheit & Praxis
- Elmar Brümmer
Leuchtend schöne Kurven
Ein Plädoyer für letzte Ausfahrten im Herbst
Der Wetter-App vertrauen an diesem dunkelgrauen Sonntagmorgen, kurz vor halbneun, fällt noch schwer. Lieber nochmal gucken, aber da steht tatsächlich: Sonne ab neun. Die Zweifel kommen zurück, als es durch den Wald hochgeht. Noch dunkler, ziemlich nass dazu. Wo bleibt bloß der versprochene Goldene Herbst? Dann, oben auf der Ebene, der Durchbruch. Endlich. Genau dafür ging es raus aus der Garage: Für dieses einmalige Licht, fast wie auf einem Gemälde von Edward Hopper. Und schon folgt die nächste Vertrauensfrage: Sonnenblende runter oder Dach auf?
Wann immer sich eine Chance auf eine Ausfahrt in den vielleicht letzten schönen Tagen dieser Jahreszeit bietet, sollte sie unbedingt genutzt werden. Auf vier Rädern gilt die gleiche Faustregel wie auf zwei Beinen: Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Ausrüstung. Richtig Grip müssen sie schon haben, die Reifen. Manche Kurve ist weit unberechenbarer als im Sommer. Wildwechsel, Laub und später die Dämmerung können schnell für ungeahnte Bremsen-Tests sorgen.
Wer den Indian Summer liebt und sucht, der muss nicht zwingend nach Neuengland oder Japan reisen. Das Blattgold findet sich auch auf der Schwäbischen Alb, im Spessart, in Thüringen, an der Mosel, im Spreewald, in der Eifel oder im Bayrischen Wald. Ganz unpolitisch leuchten die Bäume in allen Ampel-Farben – und hunderten Farbtönen dazwischen. Da kommt kein Navigationssystem mit und keine andere Bordunterhaltung. Augen weg vom Bildschirm, rein in die Natur. Für den Fahrer geht das automatisch, Nebensitzer und Rückbanktouristen können auch die Seitenfenster zum Panoramablick nutzen.
Großes Naturkino eben. Beim Spazierenfahren werden zwar keine Pilze oder Blätter, dafür jedoch eine Menge nachhaltig schöner Momente gesammelt. Die haben auch den Vorteil, dass sie den ganzen Winter über halten. Die Straßen sind jetzt (meist) leerer, jedenfalls für die, die den Mittagessen- und Kaffee-Verkehr meiden können. Dafür ist das Licht so mild – und trotzdem so stark. Auch wer von der Melancholie gepackt wird, kann dieser freie Fahrt lassen. „Scenic drive“ nennen die Amerikaner diese höchst erbauliche Art der Fortbewegung. Dafür braucht es überhaupt kein richtiges Ziel, allein die Schönheit der Landschaft ist der Wegweiser.
Im Herbst, sagt der Spruch im Kalender, besinnen wir uns auf das, was wirklich zählt. Für manchen eine Zeit der Wehmut, für die meisten eine Zeit des Wohlfühlens. Das Klima zwischen Sommer und Winter weckt automatisch die Sehnsucht nach Wärme, und das lässt sich im Auto besser und schneller regeln als in den meisten Wohnzimmern. Wessen Tage sonst von seinem Office-Kalender verplant werden, der wird besonders genießen, dass das Zeitfenster einer leuchtenden Tour durch den Herbst vom Nebel vorgegeben ist: von dem Moment an, in dem er sich hebt – bis zu jenem, in dem er sich wieder senkt.
Warum kein Ritual daraus machen. Und am Ende jeder Tour steht wieder Vorfreude – diesmal aufs Frühjahr. Aber davon mehr im März.