Brennpunkt Bürgersteig

Über das Mit- und Gegeneinander im Verkehr

Die „Zeit“ ist eine Wochenzeitung, die viel Verständnis für ihre Leser und die Menschen überhaupt hat. Was Autos und Verkehr angeht, ist die Haltung eine eher kritische. So konnte die Überschrift „Ich konnte das Chaos kaum fassen“ kaum überraschen. Ein Angestellter der dänischen Botschaft berichtete über seinen Alltag als Fahrradfahrer in Deutschland. Fazit: „Würden wir in meiner Heimatstadt Kopenhagen so Radfahren wie in meiner Wahlheimat Berlin, wären wir schnell ein ganzes Stück ärmer.“ Unvorstellbar für unsere nördlichen Nachbarn, sich auf dem Gehweg nicht regelkonform zu verhalten, auch weil ein paar Meter Radeln dort gleich 100 Euro Strafe kosten.

Wo der Egoismus beginnt

Der Däne hat richtig erkannt, wo sich auf unseren Straßen ein neuer Brennpunkt fernab aller Stauprobleme entwickelt hat: auf und neben dem Bürgersteig. Vom Prinzip her eine geschützte Zone. Wenn dort nicht Menschen ihrer Gedankenlosigkeit anderen Menschen das Leben schwer machen würden: Der parkende Autofahrer, der Rad- und Gehweg für seine schnelle Besorgung blockiert. Rücksichtslose E-Scooter-Fahrer, die ihre Gefährte einfach fallen lassen, gern auch quer. Rücksichtslose Lastrad-Piloten, die sich noch schnell an gemächlich laufenden Mitbürgern vorbeidrängen – weil es ihnen auf der Straße zu gefährlich ist. Wer in einer x-beliebigen Stadt ein Viertelstündchen das egoistische Geschehen beobachtet, kommt zu einem ähnlichen Schluss wie der „Zeit“-Autor: Wir stehen uns gegenseitig im Weg, und das im Wortsinn.

Fußgänger werden zu Opfern

Wer auf zwei Beinen unterwegs ist, der bewegt sich an einem gefährlichen Ort, wie die Statistiken zeigen. Von Januar bis November 2023 sind gegenüber dem Vorjahreszeitraum 12,3 Prozent mehr zu Fuß gehende ums Leben gekommen – das sind 40 Menschenleben mehr. Natürlich ist es oft zu eng in den Städten, häufig kollidiert die aus dem letzten Jahrtausend stammende Verkehrsplanung mit den heutigen Interessen. Das gilt gleichermaßen für Straße, Radweg und Bürgersteig. Allerdings liegt es häufig auch am eigenen Verhalten im Verkehr. Das kann nur einer steuern – jeder selbst. Denn Regeln für den Verkehr sind keine Schikanen, sondern sorgen für Sicherheit und verhindern das Chaos. Eine Straße ist ja kein Schwimmbad, wo sich (fast) alles in Bahnen lenken lässt.

Vernunft ist eine Frage der Perspektive

Kann der Straßenverkehr besser sein als die Gesellschaft? Vermutlich nicht. Das auch in anderen Bereichen fehlende Miteinander im Umgang hat auf und neben der Straße direkte und manchmal größere Konsequenzen. Leuchtet auch den meisten ein. Nur ist es mit der Vernunft und der gegenseitigen Rücksichtnahme in der Realität aber so eine Sache. Manchmal ist die Perspektive entscheidend: Wer im Bus sitzt, verlangt vehement Vorrang für die Öffentlichen im Stadtverkehr. Wer im Auto hinter dem Bus fährt, der neidet den anderen die Busspur, weil sich der Individualverkehr staut. Mit Pedelec-Fahrern verhält es sich kaum anders: wer auf Lieferdienste schwört, will sein Essen vom elektrisierten Boten möglichst schnell und warm bekommen. Wer am Zebrastreifen wartend von den E-Bike-Kurieren fast umgefahren wird, würde motorisierte Fahrräder am liebsten aus der City verbannen. Wie können wir es nur schaffen, uns miteinander fortzubewegen?

Sind es immer nur die Anderen?

Sich im ohnehin hektischen Straßenverkehr mit all seinen Einflüssen und Gefahrquellen immer auf die reine Vernunft zu besinnen, dazu braucht es vermutlich jahrzehntelange Meditationserfahrung. Aber wer gerade diese Kolumne liest und noch ein paar Minuten Zeit hat, um zu reflektieren, für den ist die Übung einfacher: ruhig mal in den anderen reinversetzen, ehrlich zu sich selbst sein, und gern noch einmal im GTÜ-Blog den Beitrag von Peter Thomas „Probier’s mal mit Gelassenheit lesen. Der gilt nicht nur für vier, sondern auch für zwei Räder – und genauso für Zweibeiner.

Infobox

Die jüngsten Vergleichszahlen des Statistischen Bundesamtes (Destatis): Die Zahl der verunglückten Kinder im Straßenverkehr stieg von 26.080 im Jahr 2019 auf 26.958 im Jahr 2023 an. Die Zahl der Verletzten und Getöteten Menschen ab 65 Jahre wuchs von 22.428 im Jahr 2019 auf 24.619 vier Jahre später.  Hauptverursacher von Unfällen mit Fußgängern von 2013 bis 2022: Zu 75 Prozent Autofahrer, bei Unfällen mit Radfahrern waren es zu 74 Prozent Autofahrer.